Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Athen.  405 v. Chr.

Ganz aufgeregt kommt einer zum weisen Sokrates gelaufen.

„Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen: Stell dir vor, dein Freund…“

„Halt ein!“, unterbricht ihn der Weise. „Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“

„Drei Siebe?“,  fragt der andere voll Verwunderung. „Welche drei Siebe?“

„Ja, drei Siebe. Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Hast du das, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“

„Nein, aber ich denke mir… Ich hörte es auf dem Markt und...“

„So, so. Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft; das ist die Güte. Ist das, was du mir erzählen willst – wenn schon nicht wahr, ist's so doch wenigstens gut für mich? Werde ich mich daran erfreuen?“

„Nein, das nicht, eher im Gegenteil...“

Der Weise schaut ihn an: „Lass’ uns auch das dritte Sieb noch anwenden, die Notwendigkeit. Ist es notwendig, dass ich das, was dich so erregt, weiß? Brauche ich es um mein Leben sinnvoll zu gestalten?“

„Notwendig nun gerade nicht...“

„Also“, sagt  Sokrates, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig ist, warum willst du es mir dann erzählen? Lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit."

Definition

Schon Pilatus fragt, „Was ist Wahrheit?“ – und kriegt keine Antwort (Joh. 18:38). Um von „der Wahrheit“, der „einen Wahrheit“, der Wahrheit als einer einzigen sprechen zu können, müsste diese absolut sein – und dass sie das nicht ist, hat jeder nur allzu oft erfahren. Jeder von uns wird von Zeit zu Zeit belehrt, dass das, was er für wahr hält, tatsächlich nicht wahr ist. Und so war es schon immer: Auch vor Kopernikus drehte die Sonne sich nicht um die Erde, und Kolumbus war nicht der erste Europäer auf amerikanischem Boden.

Auch wenn man sich ganz allein in seinem Kämmerlein mit einem (scheinbar) klaren und unkomplizierten Begriff ernsthaft beschäftigt, ist es oft sinnvoll, einen Bleistift und ein Stück Papier zur Hand zu nehmen (oder sich hinter Monitor und Tastatur des Rechners zu klemmen), um den Begriff klar und spezifisch zu definieren, will sagen: den Begriff in Worte zu fassen. Nur allzu oft bemerkt man dann – das blanke Papier bzw. der leere Monitor spricht seine eigene Sprache – , dass der vermeintlich eindeutige Begriff so eindeutig keineswegs war.

Ganz allgemein bezeichnet der Begriff Wahrheit die „Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit“ (Wikipedia); ich denke, dieser Definition wird keiner widersprechen – und trotzdem reicht sie nicht.

Was ist „die Wirklichkeit“ des gegenwärtigen Konflikts im Libanon? Ehud Olmert, Kofi Annan, und Scheich Hassan Nasrallah werden Ihnen drei verschiedene „Wirklichkeiten“ nennen, die untereinander unvereinbar sind, für die es keinen gemeinsamen Nenner gibt.

Was ist die Wirklichkeit des gelungenen (oder misslungenen) Urlaubs Ihrer ganzen Familie? Wenn Sie die einzelnen Teilnehmer fragen: Sie werden verschiedene Wirklichkeiten finden, vielleicht ebenso viele, wie es Familienmitglieder gibt.

Der amerikanische Psychologe Carl Rogers sagte, dass die Wirklichkeit ein Konstrukt ist: „Ich reagiere nicht auf eine mehr oder weniger abstrakte Wirklichkeit, sondern auf meine Vorstellung von dieser Wirklichkeit. Diese Vorstellung ist für mich die Wirklichkeit.” Oder eben, auf Wahrheit bezogen: Meine Vorstellung von der Wahrheit ist für mich die Wahrheit.

Wahrnehmung und Deutung

Zur Wirklichkeit, zu meiner Wirklichkeit, zu meiner Wahrheit komme ich durch Wahrnehmen von erfassten Signalen – und meine Deutung dieser wahrgenommenen Signale.

Ich gewichte sie in Relation zu den Reaktionen (sozialen Signalen) der Menschen um mich herum, und ich interpretiere sie in ihrem Kontext, den nonverbalen Signalen, meinen Erfahrungen (zu denen auch mehr oder weniger „modifizierte“ Erinnerungen gehören), Hoffnungen, Befürchtungen und vor allem: meinen Erwartungen.

Und so haben wir die Definition, die im Rahmen meines Referats gelten soll:

Meine Wahrheit ist meine Interpretation des von mir Wahrgenommenen. Generalisiert: Wahrheit ist die Interpretation des Wahrgenommenen.

Und die Wahrhaftigkeit? Wahrhaftigkeit ist ein Charakterzug, auf den nur Anspruch erheben kann, wer sich an seine Wahrheit hält. Ihre Bedeutung erhält sie dadurch, dass sie die Voraussetzung für Glaubwürdigkeit ist.

Wahrheit – Unwahrheit - Lüge

Die Lüge als Antonym zur Wahrheit – bringt uns das weiter? Ja, schon, denn Lüge ist klarer als Wahrheit. Lügen ist – ich denke, wir können uns darauf einigen: Bewusst die Unwahrheit sagen.

Und wie ist es, wenn ich unbewusst die Unwahrheit sage? In der Annahme, dass es die Wahrheit ist. Lüge? Nein. Wahrheit? Auch nicht ganz… oder?

Der Motivationsdenker Frederick Herzberg verfertigte in den 1960ern Studien, in denen er zeigte, dass nicht die Unzufriedenheit das Gegenteil der Zufriedenheit ist, sondern der Zustand „weder – noch“, weder zufrieden – noch unzufrieden. Er zeigte, dass es qualitativ andere Faktoren sind, die aus einem unzufriedenen Menschen einen Menschen machen, der nicht mehr unzufrieden ist – als diejenigen, die aus einem nicht zufriedenen einen zufriedenen Menschen machen. Die ersten nannte er Hygienefaktoren (extrinsic factors), die zweiten Motivationsfaktoren (intrinsic factors).

Ich folgere, es ist mit der Wahrheit ebenso – und zwar im nonverbalen Bereich: Zwischen Lüge und Unwahrheit liegen qualitativ andere Signale als zwischen Wahrheit und Unwahrheit.

Wenn ich eine Unwahrheit äußere, kann ich meinem Gegenüber (nicht nur symbolisch gesprochen) in die Augen sehen – das kann ich nicht, wenn ich lüge.

Gewiss, es gibt Menschen –auch Ärzte – , die „überzeugend“ lügen können, will heißen: wissentlich eine nicht wahre Nachricht als wahr darzustellen. Für die große Mehrzahl gilt das jedoch nicht. Und ein Gegenüber nimmt das wahr, auch wenn es wenig über nonverbale Lügen-Signale weiß. Es registriert die Bruchteile von Sekunden in denen der Blick wankt, die Handbewegungen unsicherheit signalisieren, der Tonfall eine Ahnung steigt, eine Silbe einen Tick zu langsam oder zu schnell ausgesprochen wird. Es spürt ein Unwohlsein, nimmt irgendwie wahr, dass irgendetwas „nicht stimmt“.

Täuschen wir uns nicht: Wir werden wenigen wachen Menschen ein Lüge als Wahrheit verkaufen, wobei für diese Menschen gilt: nicht wach im physischen Sinn, sondern wach im Wahrnehmen und Deuten von nonverbalen Signalen.

Wach ist man, wenn man eine Sache für wichtig hält, und was gibt es Wichtigeres als die eigene Gesundheit, die eigene Krankheit, das eigene Leben? Und in diesem Sinne kann (vielleicht) sogar ein Mensch im Koma „wach“ sein.

Operative Wahrheit

Man könnte noch lange über Wahrheit, Unwahrheit, Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit, Authentizität und verwandte Begriffe nachdenken; Goethe, Lessing, Kant, Montesquieu und Konsorten lassen grüssen. Aber: es wäre Theorie – und das ist mir im Zusammenhang mit dem Kongress, auf dem wir uns befinden, zu wenig. Denn Wahrheit hat auch eine operative Seite, und operativ heißt hier: Wie zeigt sie sich im praktischen Umgang miteinander. Operativ hat etwas mit Gebrauch zu tun. Wie wende ich meine Erkenntnisse über Wahrheit an?

Operative Wahrheit: Die praktische Anwendung meines Wissens im Gespräch mit dem Patienten.

Formulierungen

Beispiel: Ein Patient mit einem Prostatakarzinom und Knochenmetastasen hat Chemotherapie bekommen, was zu markanter Rückbildung der Metastasen geführt hat. Es geht ihm nicht gut, und er fragt mich, ob er „wieder gesund“ werde.

Was soll ich antworten? Implizit liegt in der Frage, dass er nach meiner Meinung fragt, also: Ob ich (mit meinem Wissen) glaube, dass er gesund werde. Und „meine Wahrheit“ hängt eben mit meiner Auffassung zusammen. Wenn ich denke, der momentane schlechte Zustand hänge eher mit der Chemotherapie zusammen, dann ist die Wahrheit sinngemäß: „Ja“. Wenn ich vermute, dass die Rückbildung der Metastasen nur vorübergehend ist, dann ist die wahre Antwort sinngemäß: „Nein“. Und wenn ich zwischen der einen und der anderen Auffassung stehe, dann ist die Wahrheit für mich: „Ich weiß es nicht“; und ich muss dies sinngemäß in Worte fassen. „Ich denke schon, wir können uns begründete Hoffnung machen, dass es aufwärts gehen wird.“, könnte die Aussage lauten, wenn sie aus meinem Mund käme.

„Wenn sie aus meinem Mund käme“, sagte ich. Bei der Formulierung der Worte ist es wichtig, dass ich eine solche finde, die nicht nur ausdrückt, was ich ehrlich meine, sondern mit der ich auch selber zurechtkomme. Es ist schon lohnend, einige Zeit zu investieren in eben solche Formulierungen, die wiederholte Fragen an den Patienten oder Antworten auf oft gestellte Fragen des Patienten repräsentieren. Sonst kann es sein, dass man  im Anschluss an den Kommentar mit der Überlegung zurückbleibt: „Was habe ich da bloß gesagt? Wie komme ich aus dem, was ich eben gesagt habe, bloß wieder raus?“ Und solche Überlegungen brauchen Ressourcen, die einem dann für das Gespräch nicht mehr zur Verfügung stehen.

„Wahrheit? – Wenn ja: Wie viel?“

Von meiner Mutter kenne ich die Aussage: „Du musst nicht alles sagen, was wahr ist – aber alles, was du sagst, muss wahr sein“.

Max Frisch sagt: „Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann, und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.“

Zur operativen Wahrheit gehört auch, dass sie nicht unbedingt ausgesprochen werden muss. Vor 30 Jahren wurde Krebspatienten fast nie die Diagnose mitgeteilt, denn die könnten sie, so die Begründung unserer Kollegen damals, „nicht vertragen“. Heute wird fast jeder Krebspatient mit seiner Diagnose konfrontiert – ob er es will oder nicht.

Es bedeutet, unethisch zu handeln, indem man jemandem die Diagnose, und sei sie noch so sicher, sozusagen „überstülpt“, – ohne ihn vorher nicht zumindest gefragt zu haben, ob er sie auch hören will. Das muss nicht mit der Frage, „Wollen Sie die Wahrheit hören?“, geschehen; es gibt andere Arten zu fragen, und auch hier gilt es, Formulierungen zu finden, die man selber akzeptiert und verantwortet.

Für meinen Teil stelle ich dem Patienten, der mich fragt, „Doktor, was fehlt mir?“, die Gegenfrage, „Was meinst du selber, was dir fehlt?“ In der Regel (mehr als erstaunlich oft) – kriege ich die richtige Antwort. Auch wenn sie manchmal anders formuliert wird:

Ein 74 Jahre alter Patient, bei dem man während eines Krankenhausaufenthaltes ein Prostatakarzinom diagnostiziert hatte, war nach Hause gekommen und hatte einen Termin, weil er „gerne wissen möchte, was es ist“. Auf meine Frage, was er selber meine, antwortete er: „Ich weiß es nicht,“, und im gleichen Atemzug setzte er fort, „aber es ist auf jeden Fall gut, dass es nicht Krebs ist, denn das hat keiner in unserer Familie!“

Was er mir damit sagte, war:„Ich weiß, dass ich Krebs habe – aber darüber will ich nicht reden, auf jeden Fall nicht jetzt.“

Wir sprachen nicht mehr über Krankheiten, auch Fragen stellte er keine. Im restlichen Teil des Gesprächs ging es um seine Hühner, seinen Garten, den verregneten Frühling, und er verließ die Praxis scheinbar unbeeindruckt von dem, was gesagt worden war, – und von dem, was nicht gesagt worden war. Er kehrte auch nicht später zu den ungestellten und damit auch unbeantworteten Fragen zurück.

Er starb ein halbes Jahr später an einem Herzleiden, ohne andere Harnwegssymptome als Nykturie gehabt zu haben.

Andere wollen ihre Diagnose aus dem Mund des Arztes hören. Bei Krebspatienten sind es 19 von 20. Und der Zwanzigste?

Auch der Detaillierungsgrad, mit dem wir unsere sog. „Aufklärung“ sinnvoll und menschlich betreiben, variiert von Patient zu Patient.

Wenn ich Sie (Person A) bitte, mir Ihr Haus zu beschreiben, werden Sie mir erklären, dass Sie auf dem Land, in einem ehemaligen Bauernhof wohnen.  Sie (Person B) dagegen werden mir erzählen, dass Sie in einem Haus von 1919 wohnen, aus Ziegelsteinen und mit Reetdach, 171 m², Küche ausgekachelt, 2 Badezimmer, Esszimmer und und und.

Genauso ist es beim Informieren des Patienten; der eine will eine Übersicht, je grober desto besser. Der andere will Informationen bis ins kleinste Detail. Im Fall einer Krebsdiagnose stehen die Fragen nach den Behandlungs-möglichkeiten, den Nebenwirkungen und dem Behandlungsziel (palliativ oder kurativ) oben an. Zu welcher Kategorie der Patient, der Ihnen gegenübersitzt, gehört, da gibt es nur eine Art, das herauszufinden: Ihn zu fragen. Um sich ohne Wenn und Aber nach seiner Antwort zu richten.

 

Wahrhaftigkeit – Glaubwürdigkeit

Warum ist es so wichtig wahrhaftig zu sein? Weil Wahrhaftigkeit die Voraussetzung für Glaubwürdigkeit ist. Ich will mir hier erlauben, aus meinem Buch „Das schwere Gespräch“ zu zitieren:

Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit gehören zusammen; sie sind eng verbunden mit dem Willen, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen, auch wo dieser Blick schwer fällt. Im ärztlichen Zusammenhang, und das gilt im Besonderen bei unheilbaren Krankheiten, dreht es sich weder darum, den Patienten um die Wirklichkeit herumzuleiten oder ihn für dieselbe blind zu machen, sondern darum, ihm beim Gang durch die Wirklichkeit zur Seite zu stehen, ihn hindurchzuleiten.

 

„Ihm zur Seite zu stehen und hindurchzuleiten.“ Das tue ich nicht, indem ich ihm die Wahrheit – meine Wahrheit – um die Ohren schlage. Schon eher, indem ich sie durch die 3 Siebe des Sokrates fließen lasse:

Durch das Sieb der Wahrheit:
– ich prüfe, ob meine Wahrheit auch wirklich wahr ist.

Durch das Sieb der Güte:
– ich mache mir Gedanken, ob sie ihm gut tun wird, ihn erfreuen wird.

Durch das Sieb der Notwendigkeit:
– ich stelle mir die Frage, ob er meine Wahrheit wissen muss, um sein Leben – richtiger: das, was ihm noch an Leben übrig bleibt – sinnvoll zu gestalten.

 

… Und bringe dann den Willen und den Mut auf, mich nach den Antworten, die ich mir ehrlich auf diese Fragen gebe, zu richten.

Und nochmals – um es operativ zu machen:

Außer dem Sieb der Wahrheit soll zumindest eins der zwei anderen Siebe angewendet werden.

 

Ich stand ein paar Treppenstufen tiefer als die 70jährige Patientin und war dabei, mir nach dem Krankenbesuch die Hände zu waschen.Zu Hilfe gerufen hatte sie mich wegen ihrer Schmerzen, die sie hin und wieder quälten und gegen die sie dann für gewöhnlich eine Morphium-Injektion erhielt, wie mir mein Kollege, in dessen Praxis ich Vertretung machte, vor dem Besuch erklärte. Er erzählte mir auch, dass sie vor einigen Wochen im Krankenhaus gewesen sei, wo man einen Tumor mit Lebermetastasen diagnostiziert habe, – dass sie jedoch weder über das eine oder andere informiert sei. Als ich kam, lag sie in schweren Schmerzen; ich hatte ihr bald die Injektion gegeben, ein wenig gewartet, die Schmerzen ließen nach.. Und ich war jetzt also dabei, mir in ihrem Waschraum, der ein paar Treppenstufen tiefer lag als die Küche, in der sie stand, die Hände zu waschen.

„Kannst du mir sagen, was mir fehlt?“, fragte sie. (In Dänemark duzen Arzt und Patient sich in der Regel). „Was meinst du selber, was es ist?“, fragte ich zurück. „Sie sagen ja, es ist eine chronische Leberentzündung; ich glaube aber, es ist Krebs“, war ihre Antwort, die ganz ruhig kam.

Ich sagte nichts mehr, schaute sie nur an, und wir schwiegen einen Moment gemeinsam. Dann sagte sie: „Na, du lügst auf jeden Fall nicht.“

 

Auch Schweigen gehört zur Wahrheit – und zur Wahrhaftigkeit.